Wer cool sein will, braucht bald ein Hörgerät

Millionen Deutsche trauen sich trotz Beschwerden nicht, ein Hörgerät zu tragen. Das soll sich nun ändern: Die Krankenkassen helfen mit einer Milliarde Euro – und die Geräte werden gehörig aufgemotzt.

Gesprächen kann er noch problemlos folgen. Doch mit dem räumlichen Hören hat er immer größere Schwierigkeiten. Nun sitzt der 77-jährige Ingenieur in einem Hörgeräteladen in Hamburg-Niendorf und hat ein Kabel aus dem Ohr hängen.

Es steckt in einem Gerät des dänischen Herstellers GN ReSound, das kleiner ist als eine Murmel und komplett im linken Gehörgang verschwunden ist. „Mein Mann im Ohr“, sagt der Träger mit einem ironischen Lächeln.

Ende November hat er sich das Gerät einsetzen lassen. „Anfangs war es etwas unangenehm, plötzlich wieder so viel zu hören“, sagt er, während der Akustiker von seinem Laptop aus an den Frequenzen schraubt. „Vor allem während der Rushhour – die Autos sind mit einem Mal so laut.“

Dass der Hamburger Ruheständler sich gerade jetzt zum Kauf eines Hörgeräts entschlossen hat, ist kein Zufall. „Es gibt ja jetzt mehr von der Kasse“, sagt er. 200 Euro musste der Mann für sein Hightech-Gerät aus eigener Tasche hinblättern. Der Rest – mehr als 700 Euro – geht auf Rechnung der gesetzlichen Krankenkassen.

Sie zahlen seit vergangenem Monat mit maximal 784 Euro fast doppelt so viel wie früher (421 Euro) für ein Hörsystem. Die Ausgaben für Hörhilfen könnten dadurch nach Schätzung des GKV-Spitzenverbands auf eine Milliarde Euro im Jahr steigen. Viel Geld für eine Branche, in der nach jahrzehntelangem Dämmerschlaf plötzlich Goldgräberstimmung herrscht.

Tür zur Boombranche

Als Frank Burghardt vor einem Vierteljahrhundert im ostwestfälischen Herford seine Ausbildung zum Hörgeräte-Akustiker beendete, ahnte er nicht, dass ihm dieser Abschluss einmal die Tür zu einer Boombranche öffnen würde. Stattdessen sattelte er noch eine Optiker-Ausbildung drauf und arbeitete erst einmal bei Fielmann.

Vor fünfeinhalb Jahren entschloss er sich zur Selbstständigkeit und gründete mit einem Berufskollegen das Unternehmen Die Hörmeister. Und dessen Erfolgsgeschichte lässt erahnen, was in der Akustikbranche zurzeit los ist: „Gestartet sind wir mit der Eröffnung von drei Geschäften. Heute haben wir 15 Fachgeschäfte in Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen“, berichtet der Unternehmer, ein weiteres folgt im Dezember.

Und im Februar will er mit einer Filiale in Dortmund das bevölkerungsreichste Bundesland angehen. „Und ich sehe keinen Grund, warum wir an diesem Punkt aufhören sollten“, sagt Burghardt locker. „Die Wettbewerber expandieren auch – alle expandieren.“

Weil die Menschen in Deutschland immer älter werden und zugleich immer höhere Ansprüche an die Lebensqualität im Alter haben, wächst die Nachfrage nach akustischen Prothesen. Im Jahr 2000 wurde in Deutschland rund eine halbe Million Hörsysteme abgesetzt, in diesem Jahr dürften es etwa 950.000 werden.

Und mit den Absatzzahlen wächst und wandelt sich die Branche. Die Zahl der Firmengründungen nimmt Jahr für Jahr um fünf Prozent zu. Neue Leute strömen ins Hörgerätegeschäft, und sie kommen mit neuen Ideen.

Um Diskretion bemüht

Bislang waren Hörakustiker schon in der Außendarstellung in erster Linie um Diskretion bemüht und pflegten eine quasiärztliche Vertrauenswürdigkeit, die manche sogar dazu verleitete, einen weißen Kittel zu tragen. Ganz anders das Hörmeister-Geschäft in Hamburg-Niendorf: Für den Laden wirbt ein weithin sichtbares grellgrünes Ohr, das in seiner überdimensionalen Quietschigkeit an eine Skulptur von Niki de Saint Phalle erinnert.

Der Verkaufsraum ist weit und offen, einziges Mobiliar ist ein Stehtisch in der Mitte. Auf Flachbildschirmen laufen Informations- und Imagefilme. Alles wirkt sehr reduziert, offen, unmedizinisch. „Es ist nicht leicht, Hörgeräte sexy zu machen“, sagt Mittvierziger Burghardt. Aber es ist möglich. Die Geräte würden immer leistungsfähiger und ansehnlicher. Einige seien so klein, dass er sie „Hörperlen“ nenne.

Moderne Hörgeräte könnten sich drahtlos mit Handys, Fernsehern und Autotelefonen verbinden. In Wirklichkeit, so Burghardt, handle es sich um moderne „Kommunikationsinstrumente“. Die Wortwahl, das Ladendesign, die Geräte selbst – alles ist darauf ausgelegt, die Hemmschwelle zu senken. Denn die ist immer noch hoch.

2,5 Millionen Deutsche besitzen ein Hörgerät. 6,4 Millionen hören so schlecht, dass sie eigentlich eines tragen sollten. Wäre da nicht die Eitelkeit. Rund zehn Jahre, so die Erfahrung von Akustikern, schiebt ein Schwerhöriger die Anschaffung im Durchschnitt vor sich her.

Obwohl Studien darauf hindeuten, dass eine nicht behandelte Hörschwäche das Risiko demenzieller Erkrankungen erhöhen kann. Männer gelten als besonders genant. So ist der durchschnittliche Hörgerätekäufer 70 Jahre alt. Ein Nischenmarkt – doch das scheint sich zu ändern.

Ketten machen sich breit

Heute ähnelt der Hörgerätemarkt noch der Augenoptikbranche vor 30 Jahren. Es gibt 5200 Fachgeschäfte und 2200 Unternehmer. Bei 70 Prozent der Firmen handelt es sich um kleine Betriebe mit höchstens fünf Angestellten. Doch für den kleinen Akustiker, der pro Tag ein Hörgerät verkauft, läuft die Zeit ab.

Denn die Ketten bauen ihre Filialnetze aggressiv aus. „Der Markt verteilt sich um“, berichtet Jakob Stephan Baschab, Hauptgeschäftsführer der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker, und die Entwicklung gehe zulasten der Kleinen.

Was Fielmann für Brillen, ist in der Hörgerätebranche Kind. Jedem zweiten Deutschen ist der Akustik-Marktführer angeblich ein Begriff, nicht zuletzt dank seiner Werbekampagne („Ich hab‘ ein Kind im Ohr“). Das Familienunternehmen aus Großburgwedel eröffnet im Dezember in Deutschland seine 567. Filiale.

Geschäftsführer Alexander Kind wählt als Treffpunkt ein Geschäft unweit des Flughafens in Hamburg-Fuhlsbüttel. Am Vorabend, so erklärt er, sei er aus Prag zurückgekommen, wo er ebenfalls Niederlassungen betreibt. „Wir eröffnen zurzeit fast jede Woche eine neue Filiale“, sagt der Sohn des Firmengründers.

Wachstumsziel in Deutschland sei eine praktisch flächendeckende Versorgung mit 800 Geschäften. Schon jetzt beschäftigt Kind 2500 Mitarbeiter und hat 500 Auszubildende. „Wegen des starken Wachstums der Branche ist es extrem schwierig, Personal zu finden“, sagt der Unternehmer. Es gebe Wettbewerber, die mittlerweile sogar Headhunter damit beauftragten, Mitarbeiter abzuwerben.

Auch Kinder betroffen

In der Filiale in Fuhlsbüttel gibt es links neben dem Eingang eine Spielecke, in der eine Mutter mit ihrer vierjährigen Tochter hockt. Die beiden blättern in Büchern wie „Bodo Borstel hört nicht gut“, in dem ein kleines Ferkel in die heikelsten Situationen gerät, weil es die anderen nicht verstehen kann.

„Unter 1000 Geburten gibt es ein hörgeschädigtes Kind“, sagt Meisterin Anke Strauch, deren Geschäft auf Kunden ab drei Monate spezialisiert ist. Eine frühzeitige Behandlung von Schwerhörigkeit sei wichtig, sagt Strauch, weil sich sonst im Gehirn bestimmte Synapsen etwa für den Spracherwerb nicht verknüpften. Der frühzeitige Gang zu Ohrenarzt und Akustiker kann also eine Richtungsentscheidung für das ganze Leben sein.

„Unsere Markenkampagne hat geholfen, die Vorbehalte gegen Hörgeräte zu senken“, sagt Alexander Kind. Einige Kunden kämen heute ins Geschäft mit dem Spruch: „Ich will auch ein Kind – oder zwei“. Er habe ein Interesse daran, das Image der Branche aufzubessern.

Das leidet immer wieder unter Berichten über korrupte HNO-Ärzte und Akustiker, die ihre Kunden durch absichtlich schlecht eingestellte Hörgeräte zum Kauf teurerer Modelle bewegen. Nur rund 30 Prozent der Käufer wählten bislang ein Gerät, das von der Kasse vollständig erstattet wurde. Durch die Anhebung der Festbeträge dürfte dieser Anteil deutlich steigen. Es sei denn, es gelingt der Branche, den Kunden noch teurere Geräte schmackhaft zu machen.

Die Hersteller bringen in immer kürzeren Intervallen neue, kleinere und leistungsfähigere Hörgeräte auf den Markt. „Die Modellzyklen ähneln inzwischen denen der Computerbranche“, sagt Christian Honsig, Leiter von Siemens Audiologische Technik in Deutschland. Siemens ist einer von 13 Herstellern, die sich 90 Prozent des Marktes teilen.

Im vergangenen Jahr stellte das Unternehmen die Chipplattform Micon vor, die mit einer Bandbreite von zwölf Kilohertz neue Klangdimensionen eröffnen soll. „Das ist wirklich Hightech“, sagt Honsig.

Hörperle statt Hörgerät

Bislang dominieren im Markt noch klar die sogenannten HdO-Geräte (Hinter dem Ohr). Doch Fortschritte in der Mikroelektronik, der Akkutechnologie und neue Belüftungskonzepte eröffnen IdO-Geräten ein immer größeres Potenzial. Stichwort: Hörperle. Zudem hält auch die Bluetooth-Technik Einzug in die Ohren.

Im kommenden Frühjahr soll das erste intelligente Hörgerät auf den Markt kommen, das direkt mit dem Smartphone kommunizieren kann. Es gibt sogar schon Einweggeräte, die drei Monate lang tief im Gehörgang verschwinden und dann ersetzt werden. Sie kosten 150 Euro pro Monat und Ohr, die Kasse zahlt nicht. Dafür ist das Gerät wasserdicht, sitzt bombenfest und macht angeblich alles mit – außer Fallschirmspringen und Tauchen.

Auch dem Fielmann-Konzern ist das Potenzial nicht verborgen geblieben. Bislang lag der Fokus der derzeit 679 Filialen auf dem Brillensegment. Nun hat der Konzern begonnen, seine Akustiksparte kräftig auszubauen. Vor zwei Jahren verfügten nur 66 Filialen über eine Hörgeräteabteilung – aktuell sind es schon 101.

Und in den kommenden Jahren soll deren Zahl verdoppelt werden. „Der Markt der Hörgeräte ist ein Wachstumsmarkt“, heißt es bei Fielmann. Insbesondere wenn es die Geräte neuerdings zum Nulltarif gibt. „Fielmann wird von der Anpassung der Festbeträge profitieren.“

Lage wird schlechtgeredet

Eine scheinbar triviale Feststellung, die von der Hörgerätelobby bestritten wird. Trotz des Wachstums sind die Akustiker bemüht, ihre Lage schlechtzureden. Nach einem Monat sei es noch zu früh, um Auswirkungen der höheren Zuzahlungen abzuschätzen, sagt Innungschef Baschab.

Aber: „Durch die Anhebung der Festbeträge wird eher weniger Geld bei den Hörgeräte-Akustikern hängen bleiben.“ Die Begründung für diese paradoxe Prognose: Die vom Gesetzgeber verlangte Leistung (etwa Beratung, leistungsfähiges Gerät, Anpassung, Ersatzteilversorgung) koste nicht 780, sondern in Wirklichkeit rund 1000 Euro.

Wenn der Kunde jetzt die Erwartung habe, sein Hörgerät zum Nulltarif zu bekommen, drohe der Akustiker draufzuzahlen. Deshalb hat der Berufsverband auch gegen die höheren Festbeträge protestiert. Er will noch mehr Geld.

Quelle: http://www.welt.de/wirtschaft/article122809148/Wer-cool-sein-will-braucht-bald-ein-Hoergeraet.html

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