Schon gewöhnlicher Alltagslärm beeinträchtigt das Ohr massiv
Bahnbrechende Theorie zum Hidden Hearing Loss
Wahrscheinlich wissen Sie, dass schon seit langer Zeit vor allzu lauten Rockkonzerten oder berufsbedingtem Lärm gewarnt wird. Denn zu viele Dezibel können das Ohr nachhaltig schädigen und zu einer Schwerhörigkeit führen. Aber eine neue Theorie des amerikanischen Neurobiologen Charles Liberman konstatiert, dass Lärm nicht nur zu einem „Hidden Hearing Loss“ führt, sondern dass dieser auch eine wesentliche Ursache für eine spätere Altersschwerhörigkeit sein kann.
Lärmtrauma ist ein vorübergehender Schaden – dachte man…
Wer ein Musikkonzert besucht, will sich gut unterhalten lassen und entspannen. Die Ohren jedoch müssen eine gewaltige Belastungsprobe aushalten. Nicht selten schallen 90 Dezibel aus den Lautsprechern – lange bevor der Sänger auf der Bühne steht. Kommen später noch Bläser oder Sounds mit vielen Bässen hinzu, steigt der Lärm schnell auf 120 Dezibel. Während der Schall auf Sie einhämmert, leiden die Ohren. Meist bemerkt man dies am nächsten Morgen. Das Ohr piepst und das Gehörte klingt, als wäre es vorher durch eine schallschluckende Wand gedrungen. Wenige Tage später ist das Gehör meist wieder in Ordnung. Damit ist der Schaden für das Ohr ausgestanden – jedenfalls war man lange dieser Meinung.
Hidden Hearing Loss – Libermans Erkenntnisse seit den 1980er Jahren
Der Neurobiologe Liberman untersuchte dieses Ereignis der Ohren näher. Dabei kam heraus, dass die feinen Sinneszellen in den Ohren von Mäusen beschädigt werden, wenn man die Tiere zwischen zwei laut lärmende Lautsprecher setzt. Aber nicht nur das: Auch die Synapsen, die die Sinneszellen mit den Nerven verbinden, zeigten Schwellungen und gar Risse. Während die Sinneszellen sich nach einigen Tagen wieder erholten, blieben die Ribbon-Synapsen oder Bans-Synapsen dauerhaft beeinträchtigt. Das heißt, dass der Kontakt zwischen Sinneszellen und Nerven unterbrochen blieb – ein Leben lang. Liberman gab diesem Phänomen auch einen Namen: Hidden Hearing Loss, verborgene Schwerhörigkeit. Verborgen, weil ein gewöhnlicher Hörtest diesen synaptischen Schaden wahrscheinlich nicht erkennen lässt. Die Folgen für den Menschen sind aber spürbar. Zwar sind Menschen mit Hidden Hearing Loss noch fähig, einen Schall zur richtigen Zeit wahrzunehmen, haben aber Schwierigkeiten, diesen aus dem Umgebungslärm herauszufiltern. Viele Menschen in mittlerem Alter weisen diese Problematik auf. Sie entwickeln beispielsweise Probleme, in einem gut besetzten Restaurant Ihr Gegenüber zu verstehen – bei gesunden Werten im Hörtest. Liberman trat den Beweis an, als er 22 Studierenden der Musik ein schlechteres Wortverständnis bei Umgebungslärm nachwies, als bei Menschen, die weniger Dezibel gewöhnt waren. Spezielle Messungen im Ohr legten den Verdacht nahe, dass ein Schaden an den Synapsen ursächlich ist.
Was jetzt neu ist: Altersschwerhörigkeit und eine neue Einschätzung von Lärm
Inzwischen hat man erkannt, dass der Hidden Hearing Loss eine der möglichen Ursachen für Altersschwerhörigkeit sein kann. (Rund 50 Prozent aller Seniorinnen und Senioren haben eine altersbezogene Schwerhörigkeit.) Der Grund: Ältere Menschen weisen oft einen Verlust von 50 bis 80 Prozent der Synapsen auf. Und auch der Lärm, der das Ohr schädigen kann, ist neu einzuschätzen: Die Schäden an den Synapsen entstehen nicht erst durch besonders laut Schallerlebnisse, sondern auch durch Alltagslärm.
Seit langer Zeit geht man in der Hörakustik davon aus, dass vor allem das Absterben von Sinneszellen für Altersschwerhörigkeit verantwortlich ist. Liberman weiß aber, dass eben auch die Schäden an den Synapsen eine Rolle spielen: Wenn eine Sinneszelle den Ton noch richtig wahrnimmt, kann sie ihn möglicherweise nicht weiterleiten, weil die Synapsen fehlen. Ein Indiz dafür ist auch die Tatsache, dass manche Menschen, die im Alltag Hörschwierigkeiten haben, in der Untersuchungsform des Audiogramms relativ gut abschneiden. Diese stellt in etwa fest, wie groß die Schäden an den Sinneszellen sein müssen.
Diese Erkenntnisse können dazu führen, dass viele Grundsätze der Hörakustik revolutioniert werden. Bislang ging man davon aus, dass etwa ein täglicher Lärm ab 84 Dezibel in einer Dauerbeschallung schädlich für das Innenohr ist. Liberman gab Mäusen 100 Dezibel auf die Ohren – also etwa den Schall durch ein vorbeirauschendes Motorrad oder einen bellenden Hund. Während die Mäuse das Lärmtrauma schnell wieder ausgleichen konnten, entwickelten Sie einen dauerhaften Schaden, das langfristig blieb. Zum Vergleich: MP3-Player schaffen bis zu 125 Dezibel.
Das Fazit: Wahrscheinlich ist die Bedenklichkeitsgrenze von 84 Dezibel viel zu hoch. Schäden an den Synapsen entstehen möglicherweise bereits bei niedrigeren Lärmwerten. Die Forschung beschäftigt sich derzeit mit neuen Medikamenten, die die Synapsen wieder wachsen lassen sollen. Diese enthalten sogenannte Wachstumsfaktoren.